Zentrale Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Essen etabliert

06.07.2022

Die Fälle in Münster, Lügde und Bergisch Gladbach haben das Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit in Nordrhein-Westfalen (NRW) und bundesweit gerückt. Das sind keine Einzelfälle: Die Kriminalstatistik zeigt bundesweit 17.704 Opfer von Missbrauch unter 14 Jahren in 2021 (Anstieg 4,6 Prozent), die angezeigt wurden, dazu kommen 39.171 Fälle von Kinderpornografie (Anstieg 109 Prozent). In NRW ist ein Zuwachs insbesondere in den Bereichen Kinderpornografie (4.776 Fälle, + 102,5 Prozent) und Kindesmissbrauch (3.553 Fälle, + 19,5 Prozent) zu verzeichnen. Der Zuwachs der aufgedeckten Fälle lässt sich auf die Arbeit der Ermittler*innen zurückführen. Nach den Missbrauchsfällen in Lügde hat das Innenministerium des Landes NRW die Anstrengungen im Kampf gegen sexuellen Missbrauch von Kindern intensiviert.

Neue Fachstelle schließt Lücken in der Beratungs- und Versorgungsstruktur für Betroffene

In NRW gibt es für die Betroffenen bislang nur eine lückenhafte Beratungs- und Versorgungsstruktur. Nur wenige Kommunen haben eine entsprechend spezialisierte Fachberatungsstelle. Auch in Essen gab es bislang keine zentrale, koordinierende Fachberatungsstelle. Allerdings hat im September 2021 der Rat der Stadt Essen die Einrichtung einer spezialisierten Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche beschlossen, um diese Lücke zu schließen. Die erste Beraterin startete bereits im Dezember 2021. Das Jugendpsychologische Institut (JPI) der Stadt Essen und der Deutsche Kinderschutzbund Ortsverband Essen e.V. (DKSB OV Essen e.V.). treiben den quantitativen und qualitativen Ausbau der Hilfen und Strukturen der spezialisierten Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Essen voran. Mit diesem Angebot werden betroffene Kinder, Jugendliche und ihre Familien beraten. Hinzu kommen die Beratung von Institutionen sowie die Netzwerkarbeit und Qualifizierungsangebote für Fachkräfte.

"Wir reagieren mit einer Kapazitätserhöhung und Spezialisierung der Beratung auf den dramatischen Anstieg der Fallzahlen von sexualisierter Gewalt von Kindern und Jugendlichen. Wir sind dankbar, dass wir den Zuschlag für die Fachberatungsstellen im Rahmen der Landesförderung erhalten haben. Der Schutz von Kindern vor Gewalt, insbesondere auch vor sexualisierter Gewalt, ist die Kernkompetenz des Kinderschutzbundes. Die Prävention, die Beratung und weitergehende Hilfen sowie die Inobhutnahme von Kindern bilden zentrale Handlungsfelder unserer Arbeit. Das Jugendamt und der Kinderschutzbund wollen ihre erfolgreiche Zusammenarbeit intensivieren und ausbauen. Die Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt von Kindern und Jugendlichen des JPI und des Kinderschutzbundes werden zukünftig an einem gemeinsamen Standort eine zentrale Anlaufstelle bilden", erklärt Prof. Dr. Ulrich Spie, Vorstandsvorsitzender DKSB OV Essen e.V.

Keiner darf bei sexueller Gewalt wegsehen

"Der wichtigste Schritt ist die Sensibilisierung der Menschen für das Thema von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Keiner darf wegschauen. Keiner soll sich schämen genauer nachzudenken und nachzufragen", sagt Carsten Bluhm, Fachbereichsleitung Jugendamt der Stadt Essen. "Das Land hat durch die dauerhafte Förderung der Fachberatungsstellen einen Qualitätssprung im Bereich der Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendlichen geschaffen. Lücken wurden erkannt und geschlossen, dazu hat auch die Stadt Essen mit der Finanzierung des Eigenanteils und der konsequenten Umsetzung gemeinsam mit dem Kinderschutzbund einen wichtigen Beitrag geleistet", so Carsten Bluhm.

"In den meisten Fällen kommt es nicht durch Fremde, sondern im familiären oder sozialen Umfeld zu den Übergriffen. Im digitalen Raum hingegen sind es vor allem Fremdtäter, die sexuelle Kontakte zu Minderjährigen suchen (Stichwort: Cybergrooming)", erklärt Petra Kogelheide, Leiterin des JPI. Ein sexueller Übergriff innerhalb der Familie mache es der Expertin zu Folge, Kindern und Jugendlichen besonders schwer, Hilfe zu erhalten. Der Täter (seltener auch die Täterin) ist meistens eine Person, die das Kind liebt, von der es abhängig ist, die möglicherweise eine Respektsperson ist. Die Nähe zum Täter macht Kinder besonders schutzlos. "Das Angebot der spezialisierten Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche wird sehr gut angenommen. Im ersten Halbjahr zählte das Beratungs-Tandem des Kinderschutzbundes 66 Fälle, dazu kommen rund 30 Fälle aus dem JPI. Die Anfragen erfolgten sowohl durch das Jugendamt, Kindergärten und Schulen als auch durch Betroffene selbst. Der Beratungsbedarf ist sehr unterschiedlich und reicht von ein bis drei Beratungsterminen pro Fall bis zu Beratungsprozessen mit mehr als zehn Terminen. Die enge Kooperation mit dem Jugendamt soll auch im Rahmen gemeinsamer Präsentationen im Netzwerk der Kinder- und Jugendhilfe und kommunaler Arbeitskreise sowie der Erstellung einheitlicher Materialien zum Ausdruck kommen", so Heike Pöppinghaus, Fachbereichsleitung Kinderschutz beim DKSB OV Essen e.V.

Wie erkenne ich, dass (m)ein Kind möglicherweise sexuell missbraucht wird?

Die Signale, die ein Kind aussendet, sind nicht immer eindeutig – die Verhaltensweisen, die ein Kind zeigt, auch nicht immer. So sind zum Beispiel Doktorspiele im Kleinkindalter völlig normal. "Sobald jedoch ein Alters- oder Machtgefälle, Druck und Bedrohung im Spiel sind, sieht es bereits anders aus", so Petra Kogelheide (JPI). Im Zweifelsfall sollten Eltern bei Fachkräften, zum Beispiel in einer Familienberatungsstelle nachfragen. "Bleiben Sie, wenn möglich besonnen und holen Sie sich Unterstützung", empfiehlt die Expertin. Kinder und Jugendliche brauchen ein aufmerksames Umfeld – in der Familie und im Freundeskreis, im Verein, in der Nachbarschaft, in der Kita und in der Schule. Auf Verhaltensveränderungen sollte aufmerksam und sensibel reagiert werden, und man sollte sich überlegen, wie man im Verdachtsfall ein Kind ansprechen und Wege der Hilfe aufzeigen kann.

Es ist hilfreich zu benennen, was man beobachtet, zum Beispiel einen auffallenden Rückzug, Veränderungen in der Körperpflege, Leistungsabfall, Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, starkes Ab- oder Zunehmen, Alkohol- oder Drogenkonsum oder Schulschwänzen. "Es ist wichtig, nicht vorschnell zu interpretieren, sondern einfühlsam mitzuteilen, dass man sich Sorgen macht. Kinder, die Missbrauch ausgesetzt sind, fühlen sich beschämt, oft beschmutzt, sprachlos, schuldig, verängstigt, verwirrt und allein gelassen", erklärt Petra Kogelheide (JPI). Oft reicht ein einmaliges Ansprechen nicht aus. Kinder, die sich auffällig verändern, brauchen Bezugspersonen, die sich ihnen zuwenden, unvoreingenommen nachfragen, was das Kind belastet und immer wieder Unterstützung anbieten, also auch in Kontakt bleiben, wenn das Kind oder der Jugendliche sich nicht öffnet – er oder sie hat viele Gründe dafür.

Wo finde ich Hilfe?

In Essen gibt es viele Stellen, die Hilfen anbieten, auch anonym beraten, Fragen beantworten, an weitere Hilfeangebote verweisen können. Auch überregional und online finden sich zahlreiche Hilfeportale (zum Beispiel Hilfe-Telefon 0800 2255530 und Hilfeportal des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung). In Essen kann man sich kostenfrei und vertraulich an alle Familienberatungsstellen wenden, insbesondere an die neue spezialisierte Beratung gegen Sexualisierte Gewalt beim Jugendpsychologischen Institut der Stadt Essen (Telefon: 0201 88-51333, 0201 88-51800, 0201 88-51349) und dem Kinderschutzbund (Telefon: 0201 202012). Körperliche Untersuchungen sowie eine vertrauliche Spurensicherung führt die Kinderschutzambulanz in der Elisabethklinik durch (Telefon: 0201 8970). Zu Fragen der Strafverfolgung berät die Opferschutzbeauftragte der Kriminalpolizei (Gewaltprävention – Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Bettina König Telefon: 0201 8295454).

Die Fachkräfte sind in Essen gut miteinander vernetzt und kooperieren auf Wunsch kurzfristig unter Einhaltung des Datenschutzes in allen Fragen. Sowohl Eltern, Kinder und Jugendliche können sich an die ihnen vertrauten Fachkräfte in den Familienzentren, in der Schule oder anderen Einrichtungen wenden. Die meisten Einrichtungen halten bereits Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt vor und kennen die Hilfeangebote. Auch Fachkräfte können sich vertraulich bei einer vermuteten Kindeswohlgefährdung kompetent beraten lassen. "Besser einmal zu viel fragen als einmal zu viel wegzusehen. Die Täter kennen die Mittel, die Kinder 'sprachlos' zu machen. Hören und sehen Sie hin!", appellieren die Expert*innen.

Zum Hintergrund

Das Ministerium für Kinder, Familien, Flüchtlinge und Integration des Landes NRW hat am 1. Juli 2021 das Jugendamt und den Deutschen Kinderschutzbund darüber informiert, dass der geplante Ausbau der spezialisierten Beratung gefördert werden soll. Der zuständige Landschaftsverband Rheinland (LVR) hatte die Stadt Essen und den Deutschen Kinderschutzbund am 20. Juli 2021 zur Antragstellung aufgefordert. Beabsichtigt ist, die anvisierten drei Vollzeitstellen zu fördern. Durch die erfolgreiche Antragstellung übernimmt das Land bis zu 106.208 Euro (80 Prozent) pro Jahr der bewilligten Personalkosten. Der dadurch verbleibende Eigenanteil in Höhe von 20 Prozent wird für beide Träger von der Stadt Essen getragen.

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