Im Jahre 1925 entdeckte der Stadtarchivar Konrad Ribbeck bei Verzeichnungseinheiten in den damals noch nicht vollständig verzeichneten Unterlagen des Alten Ratsarchivs ein offenkundig sehr altes Papierheft von drei losen Lagen, die in der Mitte gefaltet sind und insgesamt zwölf Seiten ergeben. Die Seitengröße beträgt 14,3 x 10,7 cm. Schriftbild und Sprache weisen es dem Spätmittelalter zu. Mehrere Zeilen der obersten Seite sind nicht mehr zu lesen, weil sie mit Tintenflecken und -spritzern beschmutzt ist. Auch die Ränder sind beschädigt.
Was Ribbeck entdeckt hat, ist die älteste, ursprünglichste und damit wohl wichtigste Fassung der niederdeutschen Überlieferung des Tannhäuserliedes und eines der ganz wenigen überlieferten Zeugnisse der volkssprachlichen Dichtung des Mittelalters aus dem Niederrhein und Westfalen.
Das Tannhäuserlied, überschrieben mit "Aliud Carmen" (lat. Ein anderes Lied), ist das zweite von drei Liedern im sogenannten Essener Liederheft. Neben dem Tannhäuserlied befinden sich in dem Papierheft noch das Mühlenlied und ein Trostlied in Todesnot ("Nu sterck uns, god, yn unser noed"). Das Essener Liederheft und damit auch das Tannhäuserlied wurde vermutlich um 1450 vom Essener Stadtschreiber Johann von Horle verfasst. Das Gedicht hebt an mit der Strophe:
"Aver wyl yck heven aen
van Danuser tho syngen
wat hye wunderss heyfft gedaen
myt (sy) hoefschen mynnen."
Es folgen 22 weitere vierzeilige Reimstrophen. Es wird berichtet, wie der Ritter und Minnesänger "Danhuser" der Liebe zur schönen Göttin Venus und ihren Gefährtinnen verfällt und sieben Jahre bei ihnen im Venusberg verbringt. Als er bereut, verlässt er unter Anrufung Marias und bei Verfluchung der Venus den Berg, pilgert nach Rom, um den Papst um Vergebung seiner Sünden zu bitten. Dieser verweigert ihm jedoch die Absolution, erst wenn sein ("dorrer") Stock rote Rosen hervorbrächte, seien die Sünden vergeben. Im Bewusstsein, dass seine Sünden nicht vergeben werden, kehrt "Danhuser" für immer zum Venusberg zurück und erfährt deshalb nie etwas von dem wunderbaren Ereignis, das nun geschah. Denn bereits nach drei Tagen begann der dürre, trockene Stock zu grünen. Das Lied endet mit der Moral, dass kein Papst einen Sünder, der bereut, abweisen solle.
Durch die Anrufung Marias und das wundersame Ereignis in der Folge gehört das Tannhäuserlied in die Tradition der Marienlegende, die vor dem Hintergrund der Marienverehrung des 12. und 13. Jahrhunderts zu sehen ist.
Der historische Tannhäuser, der landläufig häufig mit der Sage verbunden wird, obwohl ein Zusammenhang nicht nachweisbar ist, lebte als Minnesänger im 13. Jahrhundert und ist Zeitgenosse des Papstes Urban IV. (1261-1264). Vermutlich stammte er aus Thannhausen bei Neumarkt in der Oberpfalz. In der Großen Heidelberger Liederhandschrift ist er als Kreuzzugsritter gemalt. Von ihm sind einige Tanzlieder, Sprüche, Minnelieder und ein Kreuzzugslied überliefert. Er nahm am Kreuzzug Friedrichs II. teil, lebte zeitweise wohlhabend am Hof des Herzogs Friedrich II. des Streitbaren von Österreich. Er starb verarmt vermutlich um 1266.
Weltweit bekannt wurde das Tannhäuserlied durch Richard Wagner, der die von den deutschen Romantikern wiederentdeckte Sage als Stoff für seine Oper "Tannhäuser", uraufgeführt 1845 in Dresden, verarbeitete.
Essener Liederheft: Tannhäuserlied (circa 1450)
Signatur: Rep. 100 Nr. 2593.